Die Rolle der Atemkontrolle im Kendo (V)

Erschienen in : Kendo World Magazine 2.1 2003
Autor: Steven Harwood
Übersetzung: Stefan Alpers
Veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis des Kendo World Magazine

In dieser Ausgabe möchte ich die einfachen Übungsmuster kiri-kaeshi und kakari-geiko im Zusammenhang mit der Atemkontrolle betrachten. Insbesondere möchte ich verfolgen, was mit dem grundlegenden Atmungsschema, welches im Zusammenhang mit den einfachen Schlagübungen (suburi) diskutiert wurde, in diesen viel dynamischeren Trainingsmethoden passiert.

Kiri-kaeshi

Kiri-kaeshi (auch als uchi-kaeshi bekannt) wurde als Teil der modernen uchikomi-geiko-Kendo-Trainingsmethodei entwickelt – welche jene Trainingsübungen umfasst, die Schläge auf vorgegebene Ziele oder auf vom Partner freigegebene Ziele beinhalten – und die auch kakari-geiko beinhaltet. Kiri-kaeshi wird als essentielles Trainingselement sowohl für Anfänger als auch erfahrene Übende angesehen, wird aber heutzutage oft lediglich in Begriffen einer Kombination von geraden men-Schlägen und wiederholten Schlägen auf die linke und die rechte Seite des men (sayu men) definiert, ohne Atemkontrolle zu erwähnenii. Jedoch erstreckt sich der Nutzen von uchikomi-geiko im Allgemeinen gewöhnlich sicherlich über die Grenzen der physikalischen Technikausführung hinaus – die Hokushin Itto ryuiii legt die folgende Liste der zehn Tugenden vor, die durch uchikomi-geiko ausgebildet werdeniv:

  1. Die Geschwindigkeit und die Intensität der Schläge nimmt zu.
  2. Die Stärke der Schläge steigt an.
  3. Die Atmung wird kontrollierter und regelmäßig.
  4. Die Bewegung der Arme wird freier.
  5. Der gesamte Körper wird entspannter und flexibler.
  6. Die Möglichkeit das Schwert zu handhaben verbessert sich.
  7. Der Unterbauch wird stabiler, was in einer guten Körperhaltung resultiert.
  8. Man beginnt, Schlaggelegenheiten zu erfassen.
  9. Das Verständnis für ma-ai, die korrekte Distanz, aus der zu schlagen ist, wird verbessert.
  10. Der Schwertgriff wird leichter und Aktionen scharf.

In dieser Liste können wir sehen, dass die Nummern 3 und 7 mit dem Thema der Atemkontrolle zusammenhängen könnten, so wie wir es bis jetzt betrachtet haben.

Mitsuhashi Shuzo kommentiert folgendermaßen:

„Man muss uchi-kaeshi mit ki-ken-tai no itchi ausführen. Also ist es entscheidend, dass man es mit Seele auszuführt; dass man die Muskeln entspannt, indem man den Unterbauch anspannt; dass man sich aus den Hüften heraus bewegt; dass man Körperbewegung und Schlagaktion synchronisiert und dass man es rhythmisch ausführt.“v

Auch hier bezieht sich Mitsuhashi nicht ausdrücklich auf Atemkontrolle bei kiri-kaeshi aber die Übung, den Unterbauch anzuspannen und damit den Oberkörper zu entspannen; den Unterkörper zum Zentrum der Bewegung zu machen – alles wichtige Elemente, um mit ki-ken-tai no itchi (Einheit von Seele, Schwert und Körper) zu schlagen – ist eng mit der Zwerchfellatmung verbunden, die wir schon untersucht haben.

Ferner gibt es jene die behaupten, dass kiri-kaeshi ein offenkundiges Ziel von korrekter Atmung hätte. Ogawa Chutaro schreibt:

„Was ich hauptsächlich lehre ist Atemkontrolle… und die beste Art, es zu lehren, ist durch kiri-kaeshi und kakari-geiko. Man sollte nicht versuchen, mit großer Fertigkeit zu treffen, um den Gegner zu schlagen – man soll nur große Schnitte mit dem ganzen Körper machen. Bevor man es weiß, wird sich die Atmung verbessern.“vi

Hier lehrt Ogawa, dass man in der künstlichen, sicheren Zusammenkunft des kiri-kaeshi (der Gegenüber wird nicht zurückschlagen!) die Gelegenheit hat, Techniken auf eine den Grundlagen getreue Art und Weise zu üben – und dies ist eine Art und Weise, die Atemkontrolle entwickeln wird. Diese Idee, dass Atmung und physikalische Bewegung untrennbar miteinander verbunden sind, erinnert stark an Mitsuhashis Konzeptualisierung von suburi (siehe letzte Ausgabe). Allerdings scheint das Atmungsmuster, das beim kiri-kaeshi gelehrt wird, anders auszusehen:

„Wenn man kiri-kaeshi macht, sollte man nicht viele Atemzüge machen. Man soll es in einem Atemzug machen und die Ausdauer vergrößern. Es ist hart aber man muss es aushalten.“vii

Hier belehrt uns Baba, nicht bei jedem Ausholen einzuatmen, sondern das ganze kiri-kaeshi in einem Atemzug zu beenden. Das Atmungsmuster, das beim kiri-kaeshi gelehrt wird, kann wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Nimm chudan no kamae in tô ma-ai ein und atme tief ein.
  2. Drücke diesen Atem runter in den Unterleib.
  3. Rücke mit dem ki-ai „yah“ (kakegoe) vor und schlage men, ohne noch einmal einzuatmen.

Alternativ: [nur auf 1 bis 3 anzuwenden]

  1. Nimm chudan no kamae ein.
  2. Rücke mit dem ki-ai „yah“ vor.
  3. Atme beim Ausholen ein und schlage men.
  4. Beginne vom tai-atari aus vier sayumen vorwärts und fünf rückwärts zu schlagen, ohne einzuatmen.
  5. Nimm wieder chudan no kamae in tô ma-ai ein und schlage, ohne einzuatmen, wieder men.
  6. Atme im tai-atari schnell ein.
  7. Beginne vom tai-atari aus vier sayumen vorwärts und fünf rückwärts zu schlagen, ohne einzuatmen.
  8. Nimm wieder chudan no kamae in tô ma-ai ein und schlage, ohne einzuatmen, den letzten men.

Obwohl man idealerweise den finalen men schlagen sollte ohne einzuatmen, da dieser Schlag sehr energisch sein sollte, schlagen einige Lehrer vor, dass es besser ist, vor dem Schlag einzuatmen, bevor man die Qualität des Schlages gefährdet. Aber auf jeden Fall kommt man sehr schnell außer Atem, da man beim kiri-kaeshi bei jedem Schlag ki-ai „men!“ machen (und somit ein wenig ausatmen) sollte. Sumi Masatake (Kyoshi Hachidan) von der Universität Fukuoka legt sehr viel Wert darauf, zu lernen die Schwierigkeiten auszuhalten, die durch diesen Druck kommen, der auf die Atmung platziert wird:

„Ich muss betonen, dass der Wert von kiri-kaeshi als Trainingsmethode darin liegt, die Möglichkeit zu entwickeln, einen weiteren Schlag herauszuquetschen, und dann noch einen, auch dann wenn man sich außer Atem fühlt.“viii

Ich unterbreite, dass wir hier im modernen Kendo eine Reflexion der Lehre über die Vorzüge von uchikomi-geiko der Hokushin Itto-ryu sehen können.

Wenn sich also das Atmungsmuster im kiri-kaeshi von dem der einfachen suburi unterscheidet – eines, in dem man der Versuchung, einzuatmen, so lange wie möglich widersteht, während man Mehrfachschläge ausführt – stellt sich die Frage, warum? Als nächstes möchte ich genau betrachten, worauf diese Atemmethode zielt.

Baba lehrt, dass, da kiri-kaeshi die Wiederholung von Mehrfachtechniken bedingt, es wichtig ist zu trainieren, nicht außer Atem zu kommen:

„Im kiri-kaeshi muss man den Gegenüber vom tai-atari aus schonungslos verfolgen, und so kann von kiri-kaeshi als Weg gedacht werden, zu lernen, wie man den Körper benutzt, wenn man renzoku-waza (Mehrfachtechniken) ausführt… Es gibt Leute, die nur einen Schlag ausführen können – ihr wirkliches Problem ist vielleicht, dass sie außer Atem kommen.“ix

Obwohl Baba hier die Wichtigkeit des physikalischen Wechsels von links nach rechts hervorhebt, von einem Schwerthieb zum nächsten, bemerkt er, dass es die Atemkontrolle ist, die diesen Wechsel sanft macht.x Wie wir in Ausgabe 4 gesehen haben, wird im Rahmen der Atmung eine einzelne Technik durch Einatmen > Ausatmen > Halten gebildet, und wenn man in der Mitte der Technik einatmen würde, würde diese Technik gewissermaßen enden oder abgewürgt; man würde den Schwung verlieren und von einem wirkungsvollen Zustand von jitsu in einem kraftlosen Zustand von kyo wechseln. Die Aufrechterhaltung von Schwung und Atemkontrolle sind daher eng miteinander verknüpft und so ist es beim Ausführen einer Technik, die mehrere Schläge voraussetzt, essentiell, dass man der Versuchung, einzuatmen, widersteht und die Technik in einem Atemzug absolviert. Ein anderer physiologischer Aspekt beim Ausführen von kiri-kaeshi in einem Atemzug ist die Voraussetzung, dass es auf einer Höhe ohne auf und ab zu ruckeln durchgeführt wird. Wie ich später beschreiben werde, gibt es eine merkliche Tendenz des Körpers, sich beim Einatmen aufzurichten und sich beim Auszuatmen zu beruhigen. Füge diese atmungsbasierte Tendenz zu dem unvermeidbaren Anheben und Senken der Arme während man schlägt hinzu und der Vorwärtsimpuls der Technik kann leicht unterbrochen werden – und vom Gegner erkannt werden. Deshalb ist es am Besten, kiri-kaeshi in einem Atemzug durchzuführen. Offensichtlich gibt es eine Grenze, wie weit man das durchhalten kann! Wie auch immer, mein eigener Lehrer hob die Wichtigkeit und den Nutzen, sich selbst zu trainieren, so viel wie möglich ohne zu Atmen zu tun, mit einem Wortspiel hervor – Ich wurde gelehrt, dass, wenn ich der Versuchung widerstehen würde, in der Mitte von kiri-kaeshi oder kakari-geiko einzuatmen, auch wenn es hart sein würde, würde ich letztendlich meine zweite Luft bekommen: ein neuer Atem würde in mir geboren werden (ikioi), welcher eine Verdoppelung meiner Vitalität und meines Schwungs (ikioi) ergeben würde.xi Die gleiche Art Logik kann in der Lehre Reason Beyond Reason der Itto-ryu, die sutemi und zanshin betrifft, gesehen werden. Wenn man sich voll und ganz in eine Technik wirft (sutemi), ohne Gedanken, etwas zurückzuhalten (für alle Fälle), behauptet die Itto-ryu, dass ein neues Bewusstsein geboren wird, das einen dazu befähigt, mit allem fertig zu werden, egal was nach der Attacke passiert. Anstatt das Bewusstsein zurückzulassen, wird Bewusstsein zurückbleiben (zanshin). Es ist wesentlich, dass man die japanischen Wörter versteht, die ich benutzt habe: ikioi (Vitalität/Impuls) und zanshin (Bewusstsein/Selbstbeherrschung) haben beide physiologische und psychologische Aspekte in sich. Und so sollte man beim selbstvergessenen Schlagen, bei dem man weder Bedenken noch Atem in Reserve behält, nicht nur eine physikalische Verbesserung im eigenen Kendo erfahren, sondern auch einen psychologischen Wandel.

Es gibt jene, die behaupten, dass Atemkontrolle diese grundlegendsten Übungsformen zu etwas erhebt, das Meditation oder Yoga ähnlich ist, bei denen ein Wandel des psychologischen Zustands angestrebt wird.xii Und solche Kendogiganten wie Takano Sasaburo lehrten, dass ein gewisser konzentrierter Typ eines psychologischen Zustandes wichtig wäre, um kiri-kaeshi ordentlich auszuführen.xiii Ferner gibt es Untersuchungen die behaupten, dass das Benutzen von kiai (welches als Teil der Atemkontrolle der Kendomethodik angesehen werden kann) während kiri-kaeshi erheblich zum psychologischen Zustand der Seele beiträgt, den Takano vorlegte.xiv

i Kendo Jiten S.30

ii Japanese-English Dictionary of Kendo

iii Ein Zweig der Itto ryu – ein klassisches Schwertsystem, das in der Entstehung des modernen Kendo sehr einflussreich war.

iv Uchikomi no Jutoku im Japanese-English Dictionary of Kendo.

v Mitsuhashi Shuzo, Fudôchi (Unmoveable Mind – The teachings of Mitsuhashi Shuzo), S. 367 – 368

vi Ogawa Chûtarô, Kendô Kôwa (Kendo Lectures) (Übersetzung von Steven Harwood) Es sollte angemerkt werden, dass der kürzlich verstorbene Ogawa Hanshi (9. Dan) nicht nur für sein Kendo sehr berühmt war, welches ein Produkt aus der Lehre von legendären Lehrern der Vorkriegszeit und lebenslangem eifrigem Üben war, sondern auch wegen seiner tiefen Verbundenheit mit Zen Buddhismus und Jiki Shinkage ryu, einer Form von klassischer Schwertkunst, die Atemkontrolle hervorhebt. Deswegen ist es kaum überraschend, dass er Atemkontrolle im modernen Kendo besonders hervorhebt.

vii Baba Kinji, Kendo – Dento no Gijutsu (Übersetzung von Steven Harwood), S. 70.

viii Sumi Masatake, Nendai Betsu Keiki Ho – Michi no Kaori (Übersetzung von Steven Harwood), S. 86-87.

ix Baba Kinji, Kendo – Dento no Gijutsu (Übersetzung von Steven Harwood) ,S. 70.

x In der letzten Ausgabe betrachteten wir Mitsuhashis Konzeptualisierung des einfachen Schlagrhythmus als einen, in dem der Übergang vom Einatmen beim Ausholen zum Ausatmen beim Schlag vom Gegner nicht wahrgenommen wurde. Für Mitsuhashi gibt es keinen Unterschied zwischen diesem „Schalten“, ob ausgedrückt in Begriffen von Atmung oder Armbewegungen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu erwähnen, dass die Bedeutung des Begriffes kiri-kaeshi weiterhin eine Quelle für Debatten innerhalb des japanischen Kendo-Establishment ist. Obwohl es üblicherweise dafür gehalten wird, „wiederholtes Schlagen“ zu bedeuten, kann es auch einfach „wechseln von einer zu anderen Seite“ bedeuten. Wenn wir kiri-kaeshi auf letztere Weise betrachten, dann wird sein hauptsächlicher Zweck als Trainingsmethode jener, den Übergang von einem Schlag zum anderen, von links nach rechts, so sanft und unauffindbar wie möglich zu machen. Und Babas Lehre würde vorschlagen, dass der beste Weg, dieses im dynamischeren Rahmen von kiri-kaeshi zu erreichen, ist, sich vom Atmungsübergang komplett zu befreien – in dem man die ganze Übung in einem Atemzug ausführt.

xi Sanpokai Dojo, Toyko, Eto sensei.

xii Morita Monjuru, Koshi to Tanden de Okonau Kendo, S. 66.

xiii Takano Sasburo, Kendo, S. 90 (A composed and undistracted mind).

xiv Enomoto Shoji, Universität Nanzan, Ki wo takameru dake da wa nai kakegoe ga ataeru igai na koka (Nicht nur eine Steigerung von ki – die unerwarteten Effekte von kiai), Kendo Monthly magazine März 2000, S. 40.