Seme und mehr – Erklärungen von Kobayashi Hideo, 8. Dan Hanshi

Beim Gasshuku 2006 hat der damalige Lehrgangsleiter Kobayashi Hideo einen Vortrag über seme und mehr gehalten. Natürlich auf japanisch. Alle Teilnehmer haben jedoch die nun folgende schriftliche Übersetzung von Kazuko Kumpf erhalten. Die mit *) markierten Stellen sind ihre Ergänzungen.

Was im Kendo wichtig, sind Vernunft und Menschlichkeit. Kendo ist eine traditionelle Kultur. Wenn man dieses nur als Kampfsport betreibt, nur auf den Instinkt, ist Kendo keine Kultur mehr.

  1. Am Anfang sollte man versuchen, seine Stärken im Kendo weiter zu verbessern und nicht an den eigenen Schwächen hängen.
  2. Die Leute, die schon die höchsten Dangraduierungen probieren möchten, sollten nicht nur ihre Stärken weiter verbessern sondern auch die Schwächen korrigieren.

Seme

  1. Man denkt öfter mal, dass man seme beherrscht hat. Es ist aber manchmal schwierig zu erkennen, ob es wirklich geklappt hat oder nicht.
  2. Wenn man die Augen trainiert hat, den Gegner einzuschätzen und dabei auch noch ein richtiges seme gemacht hat, kann man dann irgendwann sehen bzw. verstehen, was man früher nicht sehen konnte.
  3. Auch wenn das seme gut gewirkt hat, heißt es noch lange nicht, dass man die beste Schlaggelegenheit gefunden hat. Wenn man z.B. gerade gedacht hat, „jetzt“ ist die Gelegenheit, ist beim „j“ von „jetzt“ die Schlaggelegenheit, nicht wenn man mit dem Wirt „jetzt“ fertig ist.
    *) Schlaggelegenheit ist der Zeitpunkt, wo der Gegner in seinem kokoro (Herz, Einstellung, Gefühl), seiner Körperbewegung und Technik eine Änderung zeigt.
  4. Derjenige, der vor seme Angst haben könnte, ist im Kendo ziemlich weitgekommen.
  5. Wenn man sich bei seme keine großen Gedanken macht und auch ganz locker bleibt, wirkt das seme am Besten. Wenn man sich zu viel Gedanken macht bzw. Unentschlossen ist, fällt alles auf Null zurück aber wenn man mushin (ein leeres Herz) hat, bleibt man auchvon alleine locker.
    *) Locker heißt, dass man in seiner Einstellung und im Körper weder zu stark noch zu schwach ist.

Wann man sieht, dass das seme gewirkt hat

  1. Der Gegner fängt an, seine Shinaispitze zu strecken oder gegen das eigene Shinai zu drücken.
  2. Wenn man einen Schlag gemacht hat, ohne das Gefühl, richtig getroffen zu habe, der Gegner aber sagt, dass es ein schöner Punkt war und sich auch noch bedankt, dann hat man einen Schlag mit richtigem seme gemacht.
  3. Der Gegner ist außer Atem.
  4. Der Gegner wird unruhig.
  5. Der Gegner wird schnell müde.

Schläge mit seme

Ich habe früher gedacht, dass der Zeitpunkt, wo man gesehen hat, dass seme gewirkt hat, die Schlaggelegenheit sein sollte. Mittlerweile scheint es mir aber so, dass das nicht immer der Fall ist. Das seme und der Schlag sollen öfter mal zusammen wirken oder zusammengebracht werden aber sie sollten auch mal getrennt benutzt werden. Es liegt daran, wie man kokoro und die Körperbewegung hält und das kann man nur durch Training und Ausprobieren lernen. Das geht in die Tiefe von Kendo.

  1. Mit ki und Ausstrahlung den Gegner verängstigen.
  2. So ein seme machen, dass der Gegner gefühllos wird. *)
  3. Es kommt Energie von der Shinaispitze. *)
  4. kokoro und ki getrennt benutzen.
  5. Ein unsichtbares Netz auf den Gegner werfen. *)
  6. Energie vom Gegner abziehen. *)

*) Das gehört zum Training des eigenen Image.

Wenn man so eine Einstellung bzw. Vorstellung hat kommt man zu dem Zustand, der auf japanisch meikyo-shisui heißt. Das bedeutet,dass man ganz klar wie in einem Spiegel sieht, ob der Gegner Angst hat, ob ermen oder kote schlagen will oder ob er nur antäuschen will.

Wichtig ist, dass man immer von einem weiteren Abstand als shokujin (Spitze an Spitze) versucht, seme zu machen. Das beste seme ist, wenn es auf oku-no-in (das Innerste) trifft.

debana-waza

debana ist die Technik, bei der man am wenigsten tun muss und wo man trotzdem den besten Effekt erzielt. Man lässt den Gegner 90 % der Kraft benutzen und man selber nutzt nur die restlichen 10 %. Wenn man diese Technik beherrscht hat, wird sie eine große Stärke und ein Vorteil gegenüber einem Gegner, der das auch mitbekommen hat und sich deswegen nicht mehr traut, seine Techniken anzuwenden.

Um debana-waza zu lernen, sollte man zuerst einen gleichzeitigen Schlag ai-uchi üben. Wie aus der Shiai (Wettkampf)-Regel Artikel 12-1 zu entnehmen ist, erhält keiner der Kämpfer einen Punkt, wenn beide gleichzeitig einen gültigen Schlag machen. Man sollte diese Regelung im Kopf haben und ai-uchi üben. Man sollte nicht den men-Schlag vom Gegner annehmen oder darauf warten, sondern man sollte einen gleichzeitigen Schlag durchführen, damit der Schlag des Gegners kein gültiger Punkt wird. Das ist die Grundlage von debana-waza.

Die Stärke an der Shinaispitze

Wie man in der Regel 12-2 lesen kann, gibt es keinen Punkt, wenn die Shinaispitze des Gegners vorne bleibt und er noch eine richtige und  gespannte Haltung hat. Um eine solche Haltung wie dieser Gegner zu haben braucht man nicht viel Kraft. Aber da es auch gefährlich sein kann, die Spitze beim Schlag des Gegners vorne zu halten, sollte man es nicht gegen Jugendliche tun.

Es im Prinzip nicht schön, einfach die Shinaispitze beim Schlag des Gegners nach vorne zu strecken, sondern was wichtig ist, dass man nur immer daran denkt, die Spitze in der Mitte zu halten (was auch nicht gleich bedeutet, den Gegner wegzustechen).

Schwerpunkte im Kendo

  1. Haltung und Spannung: Egal ob der Körper sich bewegt oder nicht, sollte man in dem Zustand sein, in dem man seme macht.
  2. ki-ken-tai-ichi: Egal ob man angreift oder ob man sich verteidigt, sollte man ki-ken-tai-ichi haben.
  3. Kendostärke: Wenn man im Kendo gut bzw. stark sein möchte, sollte man eigentlich alle Einzelheiten für sich und in sich zusammengefasst haben und darstellen können. Das Gesamtbild muss gut sein. Stark ist, wer
    a) seinen eigenen Schlag so weit durchziehen kann, dass der Schlag des Gegners kein gültiger Treffer wird.
    b) seine Haltung so halten kann, in egal was für einer Situation.
  4. Kendo üben mit dem Konzept von rinen (Theorie und Denkweise)
  5. Ausstrahlung (Kleidung, Benehmen, Verhalten)

„In dem Fall, wo beide Kämpfer in der gleich Spannung stehen, hat derjenige die schlechteren Karten, der sich zuerst bewegt. Wenn beide Kämpfer hohe Dangraduierungen haben verliert derjenige, der sich beeilt, einen Schlag zu machen.“

Wie man trainiert

  1. Nach dem Schlag nicht einfach weglaufen sondern immer noch die Spannung halten und ernsthaft bleiben. Diese Einstellung muss man beim Üben immer haben.
  2. Sich selbst ein Handicap auferlegen und damit trainieren. Über die Gültigkeit eines Treffers sollte man für sich strengund für den Gegner toleranter entscheiden.
  3. Wenn man mit einem gültigen Treffer den Gegner überzeugen möchte, z.B. wenn ein Punkt nach einer Mehrschlagtechnik gefallen ist, soll man da aufhören zu schlagen und einen Augenblick warten, damit der Gegner versteht, dass evtl. ein Punkt gefallen ist. Wenn man nach demPunkt gleich weiter schlägt oder sich weiter bewegt, wird der Gegner nicht verstehen, dass er geschlagen worden ist und die Kampfrichter und/oder Prüfer werden den Schlag auch nicht als einen gültigen Punkt erkennen.
  4. Man braucht im Kendo eine gewisse Geschwindigkeit oder Energie. Aber man soll nie von sich denken, dass man genug Energie hat, sondern diese Energie soll so weit gut sein, dass der Gegner oder die Prüfer sie ausreichend finden.
  5. Der Körper bleibt locker, ohne darüber nachdenken zu müssen.
  6. Wenn man sich zu oft bewegt, um sich zu verteidigen, sieht es von außen so aus, als wenn man kein konzentriertes ki  hat.

Men-Schlag

  1. Beim Ausholen
    Gut:
    Das Shinai folgt dem kürzesten Weg, der Winkel der Ellbogen bleibt wie in kamae, die linke Faust kommt vor die Stirn, ungefähr eine Faust entfernt, die Shinaispitze geht nicht runter.
    Schlecht:
    Die linke Hand ist zu weit weg vom Körper. So verändert sich das te-no-uchi beim Ausholen und die Technik oder der Schlag wird nicht richtig darauf gesetzt. Die Shinaispitze geht runter, damit dauert es zu lang zu schlagen und es ist recht schwer, rechtzeitig zu treffen.
  2. Beim Schlagen
    Gut:
    Die Ellbogen nach und nach strecken, die Handgelenke für die Schlagschärfe nutzen, den Schlag bis zum Ende durchführen und diesen abschließen.
    Schlecht:
    Die Ellbogen sind zu sehr oder nicht genug gestreckt. Das ist schlecht für die Ausführung von Mehrschlagtechniken.
  3. Bei Mehrschlagtechniken.
    Eine Wiederholung von Schlägen und kamae, strecken und beugen, fest eindrehen und locker lassen.

Der beste Schlag mit seme

Die Bewegung des Herzens, des Gefühls erkennen und nutzen.

2 Schwerpunkte

  1. Unentschlossenheit
  2. Unbewegliches Herz

Takuan hat das kokoro so beschrieben:

„Schmeiße alles ins Wasser, bis zum Ende des ganzen Körpers und lass es alles so fließen. Nur so kann man die Hände benutzen wenn man sie braucht, die Füße benutzen, wenn man sie braucht. Wenn der Körper nicht wie Wasser fließt und so hart ist wie Eis, kann man weder Gesicht noch Hände waschen.

Ein unbewegliches Herz ist etwas unbewegliches wie ein Baum oder ein Stein. Es ist eher ein Herz, welches sich flexibel bewegt aber trotzdem nie an einer gewissen Sache hängen bleibt.“

Ich denke, dass man „FUDOSHIN, dass unbewegliche Herz“ so beschreiben kann: Das man durch ein ständiges seme den Gegner im Griff hat und das man auch gleichzeitig ein flexibles Herz bzw. Gefühl hat.

Sonstiges

  1. Wenn der Gegner eine Kontertechnik ansetzt, muss man wissen, warum es passiert ist. Es ist passiert, weil man in dem Augenblick geschlagen hat, wo es der Gegner gewollt hat. Wenn der Gegner eine Öffnung zeigt, kann es auch der Ansatz einer Kontertechnik sein, worauf man aufpassen sollte.
  2. Um solche Kontertechniken zu vermeiden, muss man entweder unsichtbares riechen können oder san-sappou oder die drei Gelegenheiten, die man nicht verpassen darf, benutzen.
    *) san-sappou: Das ki, das Schwert und die Technik des Gegners töten.
    *) die drei Gelegenheiten, die man nicht verpassen darf: Der Gegner fängt an zu schlage, der Gegner beendet seinen Schlag, der Gegner weiß nicht, was er tun soll
  3. Die Gelegenheiten sind nicht erkennbar oder sichtbar. Es ist der Zeitpunk, wo der Gegner sein kokoro und die Bewegung etwas ändert.
  4. Man darf auch bei der Verteidigung ki-ken-tai-ichi nicht vergessen.
  5. Die Danträger unter 5. Dan schlagen meistens da, wo sie denken, das wäre die Gelegenheit. Ab 6. Dan und aufwärts schlagen sie, wenn sie die Gelegenheit erkannt habe, was auch optimal ist.

Wenn man im Kendo besser sein möchte, muss man immer weiter trainieren, um stärker zu werden. Wenn man nur geschlagen wird, endet die Theorie auch nur eine unpraktische Ansicht.

ai-ki (gemeinsames ki) kann man nur ai-ki  nennen, wenn die beiden Kämpfer 50-50 seme machen und die gleiche Spannung haben. Wenn beide auf ai-ki stehen ist es für beide natürlich schwierig, einen gültigen Treffer bzw. einen Punkt zu machen, auch wenn man die Schlaggelegenheit sieht oder gesehen hat. Darum ist es wichtig, immer mit dem ki des Gegners zu gewinnen, so dass man selbst mit 60 % ki gegenüber 40 % des Gegners steht.

seme und Verteidigung sind nicht zwei Paar Schuhe. Wenn man den Sinn verstanden hat, dass die Verteidigung aus seme besteht, wird das Kendo gleich besser.

Schlusswort

Es gibt unterschiedliche Erklärungen darüber, wann man schlägt und wann man seme macht. Wenn man 100 hohe Danträger fragt, was das ist, wird man 100 unterschiedliche Antworten bekommen. Man kann also sagen, dass Kendo so weit verbreitet ist und auch so in die Tiefe gehen kann. Ich hoffe, dass meine Erklärungen auch als eine von den hunterten Meinungen euch etwas helfen können.

Kobayashi